Beitrag von Herta Burger-Ringer (Schebesta/ Maturajahrgang 1950)

Der Sokrates von Hollabrunn

Im November wird der Toten gedacht: Allerseelen, Totengedenken (2.Sonntag bei den Evangelischen, dia de muertos in Mexiko (wo an den Universitäten besonders liebevoll verstorbener Kommilitonen und ehemaliger Professoren gedacht wird)

Heuer jährt sich zum 40en mal der Sterbetag von Prof. Dr. Josef Leirer, den ich gerne den Sokrates von Hollabrunn nennen und wie in Mexiko eine "ofrenda" (Totengabe, Totenehrung) gestalten möchte.

grabPepperl, wie wir ihn liebevoll nannten, war für Hollabrunn sicher eine geliebte, gefürchtete, geachtete, hochintelligente, unvergessliche Persönlichkeit wie im alten Athen Sokrates. Ich sehe ihn noch heute (in den Ferien) vor mir: bloßfüssig in billigen (damals so genannten) „Herrgottssandalen“, mit alter Lederhose aus der unten bis zu den Knien eine weiße Leinenunterhose herausragte, offenem Hemd, das seine behaarte Brust freiließ, mit dröhnendem Gelächter, das über den ganzen Hauptplatz schallte. Er plauderte gerne mit allen Schülern, fragte, stellte Fragen, antwortete treffend und mit viel Witz mit starkem niederösterreichischem Dialekt. Für seine Schüler allerdings galt: „Quod licet Jovi, non licet bovi!“ Sie mussten gepflegtes „Hochdeutsch“ (damals „reichsdeutsch“) sprechen.Über vieles lachten wir Schüler, was ich heute erst verstehe, und woran ich nun in alten Tagen oft zurückdenke.

Jede Schulstunde begann damals, dass wir Schüler stramm von den Sitzen aufspringen, mit dem rechten erhobenen Arm, gestreckter Hand dem eintretenden Professor (?) wie einem Cäsar ein lautes „Heil Hitler“ entgegen rufen mussten, desgleichen antwortete der jeweilige Professor. Nur unser Pepperl stürzte eilig zum Katheder, sagte sehr rasch „Heitler, netwahr , net wahr! Hot wer was vergess´n, net wahr, net wahr!“ Für die Antwort gab es einen oder mehrere harte Schläge mit einem Rohrstaberl (die Jugend Hitlers musste zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl sein) begleitet von seiner Frage: „Hast´s Hirn a vagessn?!“). Dr. Leirer gewöhnte sich (scheinbar unbewusst nervös an: net wahr, net wahr - wie wir begeistert mitzählten bis zu 143 mal pro Stunde - zu sagen). Heute bin ich aber überzeugt, dass er den Gruß: Heil Hitler aus Antipathie wie vieles andere, bewusst verkürzte zu Heitler und bekräftigend noch „net wahr“ anhängte. Durch das häufige Wiederholen der Wortfetzen, sollte eine Gewohnheit vorgetäuscht werden.

Gerne ließ er sich ausfragen, was oft eine ganze Schulstunde dauerte. Manchmal kürzte er das Fragen ab: Wüllst schon wieder STUVAK betreiben? (STUVAK = Stundenvertrödelungsaktion). Natürlich! Aber er beantwortete die schwierigsten Fragen gern und mit großer Sachkenntnis.

An einen anderen Spruch, den er häufig von sich gab, erinnere ich mich nun sehr oft und erst nun wird mir der Sinn richtig bewusst. „Du stiehlst ja dem Herrgott seine (Dir zugemessene) Zeit weg.“ Jetzt im Alter stehe ich oft vor den übervollen Bücherschränken, und ich nehme mir fest vor weit über 100 Jahre alt zu werden, aber die Zeit wird trotzdem nicht reichen, all die interessanten Bücher noch zu lesen… und dann wieder sehe ich meine Enkelkinder vor dem Fernsehgerät sitzen und sinnlose Zeichentrickfilme ansehen, wo es nur um Tricks, den anderen Hineinlegen, Übertrumpfen geht… oder höre andere von Fußballspielen und Schirennen reden, als wären hundertstel Sekunden unvergleichbar besser, wichtiger als andere wirklich große Leistungen der Technik, Medizin und anderen Wissensgebieten. Und lautlos klingt in mir: Du stiehlst dem Herrgott seine Zeit weg…